Danse L'Europe
The Dream of the Orient
Das Projekt „Danse l’Europe“ erweckt diese außergewöhnliche Epoche in der Tanzgeschichte zu neuem Leben, indem es Händels Ballettmusik mit den herausragenden Auftritten von Tänzerinnen wie Marie Sallé verbindet. Es entwirft ein mosaikartiges Panorama voller barocker Verschwendung, französischer Raffinesse und orientalischem Flair, das als Traum vom Orient verstanden werden kann – eine nicht reale, exotische Vorstellung, die die Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden symbolisiert. Dieses „Alla Turca“, diese Verklärung von etwas Geheimnisvollem und Anderweitigem, durchdringt die kulturelle Imagination Europas und beeinflusst die künstlerische Ausdrucksweise in vielfältiger Weise. Das Projekt bildet eine Brücke zwischen Epochen und Kulturen und zollt den Tänzerinnen und Komponisten Tribut, deren Schaffen die Welt des Balletts nachhaltig geformt und diese Faszination für das ‚Andersartige‘ in die Kunst des Tanzes integriert haben.
Im Herzen des Barockzeitalters pulsierte der Tanz, getränkt in den spirituellen Ritualen, die seit Anbeginn der Menschheit existieren. Schamanen machten ihn zum Kanal des Göttlichen; in Indien traten die Devadasis als Vermittlerinnen göttlicher Erzählungen hervor, und im maurischen Córdoba sowie im pulsierenden Bagdad wurden Bewegungen zu einem poetischen Eklat. Dieser ganzheitliche Weg erreichte seinen Zenit mit der Sufi-Praxis des Sema, einem Tanz, der die Seele dem Göttlichen näherbrachte.
Die Moresca, benannt nach den Mauren und inspiriert von deren kulturellem Erbe in Spanien und Nordafrika, spiegelt eine Epoche von kultureller Blüte wider, die bis 1492 mit der Reconquista ihr Ende fand. Diese Zeit war von gegenseitigem Respekt zwischen Juden, Muslimen und Christen geprägt, erfuhr jedoch eine Wende durch aufkeimenden Antisemitismus um 1400. Das Alhambra-Edikt von 1492 zwang Juden und Muslime zu Exil oder Konversion; viele fanden unter Sultan Bayezid II Aufnahme, der ein Dekret zur Begrüßung der Geflohenen erließ. Die sephardischen Juden bewahrten in der Diaspora ihre Sprache, Ladino, ein linguistisches Erbe des mittelalterlichen Spanien.
Die kulturelle Pracht Al- Andalus‘ beeindruckte Europa und trug durch den Transfer von Wissen zur Erleuchtung des christlichen Abendlandes bei. Diese kulturellen Einflüsse manifestierten sich auch in den Moriskentänzen der höfischen Renaissance.
In Venedig zeigte sich bereits Mitte des 15. Jahrhunderts eine Faszination für Moriskentänze, welche durch den Besuch Sultan Bayezid II’s in Florenz zur „Alla Turca“-Mode avancierte. Diese Osmanen-Begeisterung spiegelte sich in Tänzen, Balletten und Maskeraden europaweit wider und beeinflusste so das gesellschaftliche Leben bis hin zum Karneval und zur Commedia dell’arte.
Exotische Inszenierungen bei prunkvollen Maskenbällen gehörten zur Strategie der Aristokratie, Hofleben als Zentrum von Kultur und politischer Macht zu etablieren. Üppiger Luxus sollte den Untertanen die Macht der Herrschenden demonstrieren und im Wettstreit der Dynastien den sozialen Aufstieg sichern. Musiker und Künstler, die sich diesem System unterordneten, zeugen von der Bedeutung der Kultur als Ausdrucksmittel für Macht und Einfluss.
Die diplomatischen Spannungen zwischen Ludwig XIV. und dem türkischen Gesandten Süleyman Aga fanden im 17. Jahrhundert einen ungewöhnlichen Ausdruck in der Welt der Kunst. Ludwig XIV. lud Molière dazu ein, diese kulturellen Reibereien auf der Bühne zu verarbeiten, und so entstand in Zusammenarbeit mit dem herausragenden Komponisten Lully das Stück „Le Bourgeois Gentilhomme“. Dieses Werk war reich an Turquerien, wobei besonders die „Marche Pour La Cérémonie Des Turcs“ hervorsticht, ein Musikstück, das die orientalischen Klänge in den barocken Kontext Frankreichs transportierte. Ludwig XIV. selbst trat in diesem Stück als Tänzer auf, was Lullys Kompositionen zu einem Teil des höfischen Spektakels machte, das sowohl auf die gesellschaftlichen Befindlichkeiten als auch auf politische Kontroversen Bezug nahm.
Diese Affinität zu orientalischen Motiven setzte sich in der musikalischen Welt Frankreichs fort und fand ihren Weg in die Werke weiterer Komponisten. André Campra etwa widmete in seiner Oper „L’Europe galante“ einen ganzen Teil der Türkei, ein weiteres Zeugnis der anhaltenden Begeisterung für exotische Themen. Auch Jean-Philippe Rameau lies sich von diesem Trend beeinflussen und schuf in seiner Oper „Les Indes galantes“ mit dem Akt „Le turc généreux“ eine Hommage an die großzügige Gastfreundschaft, die die Türken den europäischen Gefangenen gegenüber angeblich zeigten.
Diese Werke untermauern, wie die kulturellen Begegnungen zwischen Frankreich und dem Osmanischen Reich die europäische Kunst bereichert haben und wie nachhaltig die türkischen Einflüsse das kulturelle Schaffen in Europa prägten. Neben der Einführung des Kaffees in den Pariser Alltag, der die sozialen Gewohnheiten nachhaltig veränderte, trugen diese künstlerischen Werke zur dauerhaften Faszination für das Exotische und zur Verbreitung orientalischer Motive in der barocken Kultur bei.
Besonders im 16. und 17. Jahrhundert waren die Seeschlachten zwischen den Osmanen und Venedig in der Levante ein Zeugnis für die komplexe Interaktion zwischen diesen Mächten. Der kulturelle Austausch florierte dennoch und wurde durch Missionare, Botschafter und Kriegsgefangene vorangetrieben. Westliche Reisende berichteten von der Pracht und Opulenz der Hohen Pforte und des Seraglios, welche die Imagination des Abendlandes nachhaltig beeinflussten.
Eine solche Reisende war Lady Mary Wortley Montagu, die im frühen 18. Jahrhundert durch ihre Briefe von ihren Reisen im Osmanischen Reich Europa einen einzigartigen, intimen Einblick in das Leben und die Kultur der Region gewährte. Mit ihrer tiefgründigen Beobachtungsgabe und ihrem literarischen Talent hob sie unter anderem die Lebenswelt von Frauen und die Praxis der Pockenimpfung hervor, die sie in den Westen brachte. Ihre Schriften trugen wesentlich dazu bei, die Faszination für den Orient im europäischen Bewusstsein zu verankern und den kulturellen Austausch zwischen den Welten zu intensivieren.
In der Mitte der 1730er Jahre, als durch einen Zufall eine französische Tanztruppe nach London kam, wurde Händel inspiriert, eigens für sie Ballettmusik zu komponieren. Seine Hamburger Opern waren bereits reich an französischen Tanzmelodien, beeinflusst von seinem frühen dramatischen Vorbild Reinhard Keiser; Tänze von Asiaten, Afrikanern und Gauklern waren in „Almira“ fast ebenso prominent vertreten wie in den Werken von Lully oder Campra.
Marie Sallé war zum Zeitpunkt ihres zweiten London-Aufenthalts keine verblassende französische Ballerina, sondern eine anmutige und glamouröse Primaballerina auf dem Zenit ihres Erfolgs, und die einzige ernstzunehmende Rivalin der berühmten Marie-Anne de Camargo. Wie Voltaire 1732 schrieb: „Ah! Camargo, wie strahlend sind Sie! Aber wie bezaubernd, oh Götter, ist Sallé!“ Camargo war eine brillante Tänzerin mit einer exakten und ausgefeilten Technik. Komplizierte Sprünge und Verzierungen waren ihre Spezialität, die sie mit Leichtigkeit zeigte. Eine Frau, die es wagte, ihre Knöchel zu zeigen und wesentlich höhere Schritte zu vollführen, als damals für angemessen gehalten wurde, damit aber zu einem gefeierten Star wurde.. Sallé indes unterschied sich dadurch, dass sie selbst den schlichtesten Tänzen neue Anmut und Aufmerksamkeit verlieh; ihre Gestik und mimischen Aktionen waren stets perfekt auf die dramatische Situation abgestimmt. Sie berührte die Menschen mit einem neuen Ausdruck. Ihre Auftritte in London krönten ihre Karriere; sie schockierte – und erfreute zweifelsohne – ihr englisches Publikum, indem sie auch die Kostüme den Rollen anpasste. Statt des vollen, steifen und opulenten Hofornats des traditionellen französischen Balletts, reduzierte sie auf Rock und Mieder mit z.B. fließenden griechisch anmutenden Stoffen drapiert, ohne Maske, ohne Kopfschmuck. Eine Pionierin, die das erzählende, dramatische Ballett nach Noverre vorwegnahm. Sie trat in Mourets „Triomphe des sens“ (1732) und Monteclairs „Jephte“ (1731) auf, ebenso wie in den Werken von Campra, Rebel und Destouches. In den Opern von Rameau hatte sie indessen nicht getanzt. Die „Turquerien“ in Campras „L’Europe Galante“ und Lullys „Le Bourgeois Gentilhomme“ sind besonders bemerkenswert.
Die nächste groß angelegte „Ballett-Oper“ von Händel, „Ariodante“, entstand am 8. Januar 1735. Im ersten Akt präsentierte sie eine Gavotte, eine Musette, ein Lentement, eine zweite Musette und ein sehr fröhliches Rondeau, das mit einigen lieblichen Soloflötenpassagen verzauberte. Am Ende des zweiten Aktes gab es eine „Entrée de‘ Mori“ – sehr lebhaft und in französischem Stil, mit markant punktierten Rhythmen – gefolgt von einem weiteren Rondeau. Ein zusätzliches Rondeau und verschiedene andere reizvolle, aber unbetitelte Tänze erfreuten das Publikum am Ende des dritten Aktes. Die Oper endete zart mit einer „petite reprise“, nur für die Streicher.
„Alcina“ gilt als eine von Händels schönsten theatralischen Kompositionen. Der französische Einfluss zeigt sich nicht nur in den chorischen und choreographischen Elementen, sondern sogar in der Ouvertüre selbst, deren zweiter Satz mit „Musette, un peu lentement“ betitelt ist. Im ersten Akt folgt das Ballett mit einer Folge von Gavotte, Sarabande, Menuett und erneuter Gavotte, während am Ende des zweiten Aktes Händels kraftvollste und dramatischste Tanzkomposition, die „Traummusik“ folgt. Ursprünglich für „Ariodante“ konzipiert, fügte sie sich noch passender in die schwülstige Erzählung von „Alcina“ ein. Sie startet mit einem „Entrée des songes agreables“, einer sanften Streicherökonomie, wird von den mächtigen Unisoni des „Entrée des songes funestes“ unterbrochen; ein kurzer Satz deutet „Songes agreables efrayes“ an, und die Szene endet mit einem heftigen „Combat des songes funestes et agreables“, bei dem die düsteren Träume zu siegen scheinen, bis sie sich auflösen. Akt III endet mit einem weiteren edlen „Entrée“ und einem freudigen Tamburino in schnellem Gavottentakt. „Alcina“ markierte vorerst das Ende von Händels Flirt mit dem Ballett.
Der Tanz, der oft als universelle Sprache angeführt wird, offenbart sich in diesem Programm mitunter als Darstellung einer bestimmten Nation, als Präsentation gedachter oder tatsächlicher Eigenheiten. Die Grundlage für diese Reise durch das Barock bildet „La Belle Danse“, die Tanzkunst des 17. und 18. Jahrhunderts, die von Frankreich ausgehend ganz Europa prägte und das Fundament des Klassischen Balletts bildet. Diese regulierte, mitunter an die Sittenlehre angebundene höfische und bürgerliche Tanzform ist immer auch die Vorstellung einer Person, des Tänzers selbst oder einer anderen Figur.
Die berühmte „Sarabande pour femme“ von Raoul Feuillet zu Lullys „Première entrée des espagnols“ spielt mit dem Klischee einer selbstbewussten Spanierin.
Die „Caractères de la danse“ von Rebel durchlaufen die berühmtesten französischen Tanzsätze und bilden somit in gewisser Weise ein Panorama des französischen Selbstbildes der Zeit.
Die berühmten Tänzerinnen Camargo und Sallé haben sie beide in völlig unterschiedlicher Weise interpretiert, ohne dass die Choreographien überliefert sind und Mareike Greb darf sich an diesem Abend in diese Reihe stellen.
Was läge aber näher als von originalen Tanzkompositionen wie der „Passacaille d’Armide“, zu der gleich drei Choreographien erhalten blieben, ausgehend, sich über die Wiederbelebungen barocker Tanzschätze im Stile der Zeit mit Marie Sallé im Geiste zu verbünden und den erzählenden und dramatischen Geist der Tänzerin fortzuführen, um den sie so gerungen hat.
Der Tanz als Repräsentation wird sich wandeln in den Körper als berührendem, erzählendem Mittel in Bewegung, der Eigenheiten, Besonderes und universal Verbindendes sucht in den Epochen und in den Nationen, verbunden durch die Kraft und Schönheit der Musik.